Christine Lehmann

    

Christine Lehmann, Die Affen von Cannstatt, Kriminalroman, Argument Verlag, Hamburg, 2013, S. 288, 12,- Euro; als eBook bei CULTurBOOKS Hamburg, 8,99 Euro

Es gehört sich nicht, in einem Tagebuch zu blättern. Das haben wir gelernt. Vielleicht kann zu unserer Entlastung gesagt werden, dass es sich um das veröffentlichte „Hafttagebuch“ der Camilla Feh handelt. Dieser Umstand mindert womöglich unsere Scham über die Indiskretion. Von Scham ist Camilla, die Tochter einer mutmaßlichen Kindsmörderin, genug gequält. Nicht von jener Sorte, die nützlich für ein zufriedenstellendes Miteinander wäre, sondern von jener zerstörerischen, „toxischen“ Scham, die das eigene Wollen, den eigenen Wert begrenzt und die schöne Camilla in den sozialen Rückzug hinein, in die Unsichtbarkeit zwingt. Die Pflegeeltern sind freundliche Leute, unterstützen die Tochter und doch … die Blicke der Anderen, der verhalten mitleidige Ton.

Und dann ist Camilla in U-Haft. Man wirft ihr vor, für den dramatischen Tod ihres Ex-Freundes im Gehege der Bonobos in der Wilhelma, dem Cannstätter Zoo, verantwortlich zu sein. Immerhin befasste sie sich im Rahmen ihres Soziologiestudiums mit deren Verhalten, bis sie sich wegen einer Unstimmigkeit mit ihrem Professor exmatrikulieren ließ, statt für ihre Interpretation der Beobachtungen einzustehen: Bonobos können ihre Kinder morden. Oder ist das eine Projektion Camillas eigener Geschichte? Rückzug statt Kampf, unterlegt von Scham und der negativen Selbstüberzeugung, falsch zu sein. Christine Lehmann greift die Thematik der Erbsünde auf, mit der Frauen sich seit der Arbeitsteilung herumschlagen, nicht erst seit 2000 Jahren. „Nur im prähumanen Paradies hatte Eva das Sagen, sie war die Aktive, die dem tumben Adam die Sexualität entdeckte.“ Nö. Sie war die Rippe. Und nach der Mythologie hatte sie zwei Vorgängerinnen, die wegen Mangelhaftigkeit eingestampft wurden, während Lilith, die intellektuelle Fliegerin, verbannt wurde. Was für ein Desaster für die Weiblichkeit! Was für eine Katastrophe für die Männer! So oder so.

Im Knast verliert Camilla alles. Ihren Job, ihre Bezüge, ihre Privatsphäre, ihre Energie, ihre Würde. Die kühle, unspektakuläre Schilderung des Haftalltags zeigt die ganze grausame Entindividualisierung in Gefangenschaft, nicht nur die der Frauen. Der Bogen zu eingesperrten Mitgeschöpfen, z.B. den Bonobos, wird gespannt. „Es schmerzt. Hoffnung ist ein Tumor im Gehirn.“ Bittere Bilder findet die Autorin.

Camilla wäre nicht, wo sie ist, ohne Verrat, begangen im besten Wollen, im Namen der Wahrheit sogar. Lisa Nerz, die sich bereits durch einige Kriminalromane der Autorin ermittelt hat, interpretiert ein paar Fakten übereifrig falsch, mit verheerenden Folgen für Camilla. Ein Motiv, das den Roman durchzieht, ist das Wiedergutmachen. Aber so absurd wie der Begriff, so zweitklassig sind die Ergebnisse. Schadensbegrenzung wäre möglich. Aber dazu müsste man sich der eignen Verantwortung stellen, und das hätte einen Preis. Den mögen weder Camillas Mutter, noch die Mithäftlinge, noch Lisa Nerz zahlen. So ein klein wenig Verleugnung kann einem eine Menge innere Stabilität sichern und Handlungsfähigkeit erhalten. Christine Lehmanns Figuren sind keine Heldinnen und schon gar keine Antiheldinnen. Sie sind halt Leute, die sich trotz ihrer mehr oder weniger glücklichen Biographien durchschlagen müssen. Warum, fragt Camilla, hat ihre Mutter sie leben lassen, während sie vier ihrer Kinder umgebracht hat? (Hat sie?) Weil sie es nicht besser wusste. Der Vorwurf, den Camilla ihr macht: Sie hätte wissen können. Nun, das mag sein. Schwer zu sagen, wenn man nicht drinsteckt in jemandes Haut. Auf jeden Fall ist Dummheit und Ignoranz keine Ausrede für … alles.

Fragen von Verantwortung, Schuld, Scham, Freiheit, von Gewalt, Solidarität und Gemeinschaft verhandelt Christine Lehmann souverän und unprätentiös im Erzählerischen. Ein hübscher Ausflug ins Philosophische über das Menschsein sei an der Stelle noch zitiert: „ … Sie (die Primaten) können sogar altruistisch und empathisch handeln … Klammert man sie aus, geraten wir bei Behinderten und Dementen in eine Definitionskrise. Legt man dagegen den Kant`schen Begriff der Autonomie zugrunde, wonach der Mensch selbst erkennt, was ethisch richtig ist, und sich selbst Normen setzt, fällt wiederum die Hälfte meiner Haftgenossinnen durchs Raster.“ Und jede Menge Menschen, die sich nicht in Haft befinden auch, möchte man hinzufügen.

Bei aller Komplexität der „großen Fragen“ – der Roman entwickelt sich in seiner klaustrophobischen Atmosphäre subtil drängend und mit einer faszinierend dunklen Intensität. Und nein, glücklich wird keiner am Schluss, nur ein bisschen freier. Vielleicht.

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